"Die Europäische Union bedeutet für mich Freiheit"

Vor 20 Jahren traten 10 Staaten der EU bei – die EU-Osterweiterung markierte einen Meilenstein für die europäische Integration. Auch für die deutschen Minderheiten in den neuen Mitgliedsländern ein besonderer Tag: Wie haben sie das Ereignis erlebt? Wie hat es ihr Leben und ihre Arbeit geprägt? Und wo stehen sie heute?

Wie sehen Momente aus Geschichtsbüchern eigentlich im echten Leben aus? Am 01. Mai 2004 wurden gleich 10 Länder im östlichen Europa Teil der Europäischen Union, darunter vier ehemals sozialistische Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts: Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn. Nicht nur für die EU, die damit plötzlich um 23% ihrer Fläche und um rund 75 Millionen Einwohner:innen wuchs, war dieser Tag ein historischer Moment der europäischen Integration. Auch in vielen neuen Mitgliedsländern wurde die Rückkehr nach Europa mit Feuerwerken und Straßenfesten gefeiert. Doch wie sieht ein solches Großereignis eigentlich im Kleinen aus? Wie hat die Mitgliedschaft in der EU das Leben und die Arbeit der deutschen Minderheiten im östlichen Europa geprägt?

Links: Foto von Katalin Gajdos-Frank. Es ist ein älter-aussehendes Foto. Man sieht einen Mann mit einem Kind auf dem Arm. Es sind Katalins Vater und sie als Kleinkind. Rechts: Katalin hält eine Rede im ungarischen Parlament.
Foto links: Katalin Gajdos-Frank; Foto rechts: ifa

Katalin Gajdos-Frank gehört zur deutschen Minderheit und ist im sozialistischen Ungarn großgeworden. Zu dieser Zeit als Ungarndeutsche aufzuwachsen, war für sie nicht immer einfach: Die Geschichten von Familienmitgliedern, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund ihrer Herkunft deportiert und diskriminiert wurden, klingen Gajdos-Frank noch heute in den Ohren. Rund 200.000 Ungarndeutsche mussten ab 1946 ihre Heimat verlassen. In Viehwaggons wurden viele von ihnen von Budaörs aus nach Deutschland gebracht, bereits ab Dezember 1946 wurden zahlreiche Ungarndeutsche zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt.

"Mein Opa zum Beispiel wurde verschleppt, enteignet und vertrieben", erzählt sie. Auch am Tag der EU-Osterweiterung ist es vor allem die Reaktion ihres Großvaters, die sie noch deutlich vor Augen hat: Ihm bedeutete es viel, nun Teil der EU zu sein – in seiner Einschätzung ein Schritt in Richtung Freiheit. Auch Gajdos-Frank selbst erinnert sich noch gut an den Tag, den sie damals als junge Mutter mit ihrer knapp einjährigen Tochter erlebte "Ich weiß noch, dass mein erster Gedanke an diesem Tag war: Endlich gehören wir zu Europa."

Minderheiten als Geschenk für die Demokratie erkennen

Heute, 20 Jahre später, leitet Katalin Gajdos-Frank das Jakob Bleyer Heimatmuseum in Budaörs, ungefähr zehn Kilometer von Budapest entfernt. Hier erzählt sie nicht nur die Geschichten und Traditionen der Ungarndeutschen, sondern bringt die Lebenswelt der Minderheit auch ins Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung. Im Zusammenleben verschiedener Minderheiten sieht sie eine Stärke der europäischen Integration – und fasst diese Überzeugung mit einem Zitat von Jens Baumann, dem Beauftragten für Vertriebene und Spätaussiedler in Sachsen, zusammen, den sie auf einer Veranstaltung kennengelernt hat: "Die Stärke der europäischen Identität ist es gerade, die Minderheiten nicht als Zumutung zu betrachten, sondern als Geschenk."

Diese Vielfalt prägt die Bedeutung der EU-Osterweiterung auch für Martin Dzingel. Er ist in einer zweisprachigen Familie aus der deutschen Minderheit im Altvatergebirge, einem polnisch-tschechischen Grenzgebiet, aufgewachsen und spricht seit seiner Kindheit neben tschechisch auch deutsch. Seit 2010 setzt er sich als Präsident der Landesversammlung der deutschen Vereine in der Tschechischen Republik unter anderem für die Sichtbarkeit der Minderheit ein. Schon vor 20 Jahren war es ihm wichtig, mit Menschen aus unterschiedlichen Ländern zusammenzukommen: "Am Tag der EU-Osterweiterung hatte ich Besuch aus Deutschland und Österreich. Wir sind gemeinsam auf den Laurentiusberg in Prag gelaufen und haben dort eine Flasche Sekt getrunken", erinnert er sich heute.

Gemeinsam mit Menschen aus verschiedenen EU-Ländern den Beitritt Tschechiens zu feiern, ist für ihn eine prägende Erinnerung. Auch für die deutsche Minderheit habe der Beitritt Tschechiens zur EU eine große Bedeutung – zum Beispiel, wenn es um den Erhalt und die Pflege der deutschen Sprache gehe: "Durch den Beitritt haben wir nun zum Beispiel die europäische Charta der Minderheitensprachen, die uns eine Plattform ist zur Unterstützung und zum Schutz", sagt er. Seit 1998 schützt die Charta Minderheitensprachen aktiv: Die Vertragsstaaten werden dazu verpflichtet, die Sprachen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu fördern: von Schulen über das wirtschaftliche und soziale Leben bis hin zur Verwaltung. Überwacht wird die Umsetzung vom Europarat.

"Der Beitritt zur EU war ein riesengroßer Schritt für Gesellschaft, Politik und die Standards der Minderheit"

Das linke Bild von Lucjan zeigt ihn bei einem Interview, das rechte Bild ist ein Gruppenfoto, man sieht Lucjan Dzumla und sein Team beim Jugendforum; Projekt für die EU des Jugendforums.
Foto links: Haus der deutsch-polnischen Zusammenarbeit; Foto rechts: Lucjan Dzumla

Wie stark der EU-Beitritt die Minderheit vorangebracht hat, sieht auch Lucjan Dzumla, Geschäftsführer des Hauses für deutsch-polnische Zusammenarbeit in Oppeln. Schon 2004 engagierte er sich für die deutsche Minderheit und ein tolerantes, offenes Europa. Damals organisierte er mit seinem Team im JugendFORUMmłodych bei der Deutschen Bildungsgesellschaft zahlreiche Projekte, mit denen er für die EU warb. "Dass Polen in die EU aufgenommen wurde, war ein riesengroßer Schritt für das Land und die Gesellschaft", sagt er heute.

"Für die deutsche Minderheit ist es so, dass wir plötzlich in einer ganz anderen Liga spielen: Das betrifft Gesellschaft, Politik und auch die Standards für Minderheiten." Für ihn ist das 20-jährige Jubiläum ein wichtiger Moment nach vorne zu blicken: Wie das Land sich seither verändert habe, gebe Hoffnung für die Zukunft. Auch die Slowakei wurde 2004 Mitglied der Europäischen Union. Innenpolitisch wurde der Beitritt von allen größeren Parteien unterstützt, ein Jahr zuvor hatten auch 93,71 Prozent der Teilnehmenden bei einem nationalen Referendum für den Beitritt des Landes gestimmt.
Kristián Göbl, stellvertretender Vorsitzender des Karpatendeutschen Vereins und Mitglied der deutschen Minderheit in der Slowakei, war damals gerade 13 Jahre alt. Mit seiner Familie verbrachte er den Tag der EU-Osterweiterung auf einem Maispaziergang in der Natur. 

Für seine Generation ergaben sich mit dem 01. Mai 2004 ganz neue Möglichkeiten. Während man bis dahin zum Beispiel Stunden an den Grenzübergängen warten musste, um von einem Land in ein anderes zu reisen, eröffnete die Mitgliedschaft in der EU ganz neue Perspektiven, die mit dem Schengener Abkommen und dem Wegfall der Grenzkontrollen 2007 Wirklichkeit wurden. Für Göbl bedeutet die Europäische Union seither vor allem Freiheit: Reisen ohne Reisepass und später auch die die Möglichkeit, in anderen Mitgliedsstaaten zu arbeiten, ohne hohe bürokratische Hürden überwinden zu müssen. Damit wurde auch für den Austausch zwischen den deutschen Minderheiten ein neuer Weg bereitet, um unkompliziert länderübergreifende Netzwerke aufbauen zu können.


Zu den Zitaten dieses Beitrags, gibt es kurze Videostatements. Diese sind entweder im Zitat verlinkt oder direkt als Video im Blog zu sehen. Mehr Videomaterial gibt es auf dem YouTube Kanal von Mind_Netz zu finden.


 

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