Die Türkei, die EU und Menschenrechte

Podcast mit Selmin Çalışkan

Politisch motivierte Prozesse gegen regimekritische Personen sind in der Türkei nahezu an der Tagesordnung. Begründet werden sie durch die Anti-Terror-Gesetzgebung der Türkei, auch wenn der Europäische Gerichtshof diese Inhaftierungen als rechtswidrig einstuft – wie im prominenten Fall des Kulturförderers und ifa-Preisträgers Osman Kavala.

In dieser Folge des ifa-Podcasts berichtet die Menschenrechtsexpertin Selmin Çalışkan über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei hinsichtlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und dem Verhältnis zu Europa. Angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen im kommenden Jahr befürchtet sie eine Verschlechterung der Situation. Zur Unterstützung fordert sie eine aktivere und klare Positionierung Deutschlands und der EU gegenüber der türkischen Regierung.

Auf einem blau, gelb, schwarz gestreiften Hintergrund innerhalb eines weißen Kreises ist eine Frau illustriert in schwarz weiß. Sie hat langes Haar und trägt Ohrringe. Unter ihrem Kopf steht in blauer Schrift Selmin Çalışkan, über ihr in schwarzer Schrift DIe Kulturmittler Nummer 43. Es handelt sich um das Cover der 43. Folge des ifa-Podcasts zu Kultur und Außenpolitik mit der Menschenrechtsexpertin Selmin Çalışkan zum Thema Türkei, Menschenrechte und Europa. Illustration Lea Dohle
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Transkript zur Folge

Folge #43: Die Türkei, die EU und Menschenrechte. Mit Selmin Çalışkan

"Die Zivilgesellschaft wird immer weiter eingeschüchtert und ihnen werden Klagen angedroht. Ihnen wird Gewalt angedroht. In der Türkei, wenn man zu Protesten auf die Straße geht, weiß man nicht, ob man heil wieder nach Hause kommt, um es einfach so zu sagen. Das heißt, man nimmt ein sehr hohes persönliches Risiko auf sich, wenn man sich Straßenprotesten anschließt." (Selmin Çalışkan)

Amelie Berboth: "Hallo! Schön, dass ihr wieder dabei seid, bei dieser neuen Folge von "Die Kulturmittler", dem Podcast des ifa zu Außenkulturpolitik. Mein Name ist Amelie Berboth. Meinungen frei und öffentlich äußern zu können, ohne Angst haben zu müssen, verfolgt und verhaftet zu werden – das ist in vielen Ländern selbstverständlich. Auch hier in Deutschland ist das ein wichtiges Menschenrecht. In der Türkei landen mit erschreckender Häufigkeit Menschenrechtsaktivist:innen im Gefängnis, weil sie sich regierungskritisch äußern oder den fehlenden Schutz marginalisierter Gruppen bemängeln. Selmin Çalışkan ist in dieser Folge mein Gast. Sie ist Expertin und Aktivistin für Menschenrechte und beobachte die weltweiten Entwicklungen im Umgang mit Menschenrechten, unter anderem in der Türkei. Am besten stellt sie sich selbst vor."

Selmin Çalışkan: "Ich bin Selmin Çalışkan. Ich bin schon lange im Bereich der Menschenrechte tätig. Ich habe lange für Medica Mondiale in Köln gearbeitet, dadurch auch viel in Afghanistan zum Thema Frauenrechte. Und die letzten Stationen waren bei der European Women's Lobby in Brüssel, wo ich auch für das Thema Migration und Asyl auf europäischer Ebene zuständig war. Und später war ich dann Generalsekretärin bei Amnesty Deutschland. Und zuletzt war ich dann bei der Open Society Foundations in Berlin in der Leitung beschäftigt. Das war das Büro, das aus Budapest weggehen musste aufgrund des Druckes, der vom ungarischen Staat ausgeübt wurde, auf unsere Stiftung. Und heute bin ich freie Expertin, aber ich nenne mich auch gerne Aktivistin für Menschenrechte."

Amelie Berboth: "Als Teil ihrer Arbeit beschäftigt sich Selmin Çalışkan auch mit Osman Kavala, der dieses Jahr den ifa Preis für den Dialog der Kulturen erhalten hat. Der Menschenrechtsaktivist, Kulturmäzen und Unternehmer, ist seit den 1990ern einer der wichtigsten Akteure der türkischen Zivilgesellschaft. Die von ihm mitgegründeten NGO Anadolu Kültür vereint zum Beispiel Kunst, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in dem sie lokale Initiativen unterstützt, die kulturelle Vielfalt hervorheben und internationale Zusammenarbeit stärken. Weil die türkischen Behörden Osman Kavala unter anderem der Spionage und Mitverantwortlichkeit am gescheiterten Militärputsch gegen die Regierung im Juli 2016 bezichtigen, ist er seit 2017 in Haft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte forderte im Dezember 2019 zwar seine Freilassung, im April dieses Jahres wurde Kavala allerdings zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen sowie ohne Aussicht auf vorzeitige Freilassung verurteilt. Rechtskräftigt ist das Urteil noch nicht.  Organisationen wie Amnesty International Deutschland, Reporter ohne Grenzen, das PEN-Zentrum Deutschland, die Akademie der Künste und das KulturForum TürkeiDeutschland setzen sich seit Jahren für seine Freilassung ein. Nachweise für strafbare Handlungen gibt es in den meisten dieser Fälle nicht. Stattdessen werden strafrechtliche Ermittlungen und Verfolgungsmaßnahmen gegen Menschenrechtaktivist:innen, Journalist:innen oder auch Mitgliedern von Oppositionsparteien unter dem Deckmantel "Propaganda für eine terroristische Organisation" bzw. auf Grundlage von Anti-Terror-Gesetzen, eingeleitet.Ich wollte von Selmin Çalışkan wissen, wie sie die generelle Lage der Menschenrechte in der Türkei einschätzt und wie sie sich seit den Gezi-Protesten 2013 verändert hat."

Selmin Çalışkan: "Also eigentlich muss man sagen, dass es Anfang der 2000er Jahre sehr positive Entwicklungen gab, und zwar im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen, wo die Türkei als Beitrittskandidat gehändelt wurde. Sie ist es immer noch, aber die Verhandlungen sind ins Stocken geraten, würde ich sagen. Und 2002 wurden dann aufgrund dessen, dass die Türkei wirklich auch der EU beitreten wollte, in der Zeit noch zum Thema Strafrecht, Scheidungsrecht, Arbeitsrecht, aber auch Kinderrechte, Reformen durchgeführt. Und wir alle hatten die Hoffnung, dass es eine geschlechtergerechte und auch vielleicht eine sozialgerechtere Türkei geben könnte. Die internationale Aufmerksamkeit war sehr auf die Gezipark-Proteste gerichtet, die 2013 im Juni stattfanden. Da ging es um ein Infrastrukturprojekt. Das heißt, es war ein kleiner Park auf dem Taksim Platz, mitten in Istanbul, der friedlich besetzt wurde von Tausenden von Menschen, vor allen Dingen von jungen Menschen, und der dann in der Folge brutal geräumt wurde. Und als Konsequenz gab es sehr viel Polizeigewalt. Es gab immer wieder Proteste, auch gegen die Polizeigewalt. Es war von Gewalt geprägt und die Menschen waren fassungslos eigentlich, dass der Staat mit so harter Faust gegen friedlich Protestierende, die im Park eigentlich ihre Sit-ins machten, reagierte. Und eigentlich ist die Türkei dann auch gar nicht mehr zur Ruhe gekommen. Also die Proteste wurden als Aufstand gegen die herrschende AKP-Partei gedeutet, auch gegen den Präsidenten selbst. Eigentlich gab es seitdem nur noch eine Abwärtsspirale, was Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei angehen. Die Anti-Terror-Gesetzgebung, die sie eben nannten, die gibt es schon länger. Die wurde ausgiebigst auch im Kontext vom türkisch-kurdischen Konflikt genutzt. Also sehr hart, auch in den 90er Jahren schon. Und die Krux mit der Anti-Terror-Gesetzgebung ist, dass es eigentlich schwammig formuliert ist. Eigentlich genauso wie in Ägypten. Da sind die auch schwammig formuliert, sodass man eigentlich gar nicht weiß, warum wird man als Terroristin angeklagt oder nicht? Oder was muss man dafür tun, um das zu werden? Und so ist es aber auch gedacht, weil es einfach die Menschen abschreckt, sich überhaupt politisch zu betätigen oder ihre Meinung frei zu äußern."

Amelie Berboth: "Dazu vielleicht auch gleich die nächste Frage: Welchen Handlungsspielraum haben denn zivilgesellschaftliche Akteure und Akteurinnen in der Türkei?"

Selmin Çalışkan: "Also es gibt immer wieder Verhaftungen. Gestern war die aktuellste Verhaftung. Und zwar Frau Korur Fincanci wurde verhaftet. Sie ist die Vorsitzende der türkischen Ärztekammer und auch Trägerin des Hessischen Friedenspreises übrigens. Und sie ist eine der Top Menschenrechtsverteidigerinnen. Sie ist forensische Ärztin und ihre Stiftung, also die türkische Menschenrechtsstiftung, hat immer wieder auch dafür gesorgt, dass Polizeigewalt forensisch aufgearbeitet wurde, sodass auch Folter nachgewiesen werden konnte. Und deswegen ist sie unter anderem auch den Behörden ein Dorn im Auge. Und die türkische Ärztekammer ist sowieso auch den türkischen Behörden ein Dorn im Auge. Das heißt, auch ihre Verhaftung steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Runterschraubung der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Vereinigungsfreiheit. Und warum sie festgenommen wurde: Das war unter dem Punkt Terrorpropaganda. Also das sind eigentlich immer Terrorpropaganda, Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation, Beleidigung des Präsidenten, Beleidigung des Türkentums. Das sind eigentlich die großen vier Anklagepunkte, wo man sofort in das Visier der AKP-Regierung und des Staates gelangt. Und sie hatte eine unabhängige Untersuchung der türkischen Militäreinsätze in den kurdischen Autonomiegebieten in Nordirak gefordert. In der Untersuchung sollte aufgedeckt oder untersucht werden, ob Chemiewaffen dort in Einsatz gekommen waren. Und das ist natürlich ein großer Affront gegen das türkische Militär und auch gegen die Politik, die Präsident Erdogan gegen die kurdischen Autonomiegebiete führt."

Amelie Berboth: "Welche Möglichkeiten bleiben denn da momentan überhaupt, um Protest zu äußern?"

Selmin Çalışkan: "Es gibt viele Straßenproteste, gerade. Die sind eher in Bezug auf die Wirtschaftskrise, die sich angebahnt hatte, schon vor der Coronazeit. Aber Corona hat das alles verstärkt und verschärft. Das heißt zum Beispiel: In der Türkei sind 60% der Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt und davon ist dann auch noch ein Teil, der nur auf Mindestlohnebene lebt. Das heißt, die Menschen sind immer weiter verarmt, die Geschäfte machen zu, die Gas- und Lebensmittelpreise explodieren gerade. Die Inflationsrate ist bei 80% in der Türkei seit August und es kann sein, dass die weiter steigt. Das heißt, es gibt ganz normale Menschen, die gerade auf der Straße protestieren, gegen diese Verunmöglichung sein eigenes Leben fortzuführen und die nötigen Dinge dafür zu haben. Also eigentlich eher auf diesem Niveau Soziale Proteste. Und dann gibt es natürlich auch die verbliebenen Gewerkschaften, die immer wieder auch zum Streik aufrufen. Das ist im Moment so das Tableau, was für die ganz normalen Menschen gültig ist. Und auch die Anhänger der AKP und MHP-Regierung. Also es ist ja eine Koalition von beiden Regierungen an der Macht, weil Erdogan gar nicht mehr seine eigene Mehrheit garantieren konnte seit 2015 und hat sich da mit der nationalistischen Volkspartei zusammengetan. Und aber auch diese Anhänger rufen gerade nach Veränderung. Also durch diese wirtschaftliche Krise, in die die Türkei gestürzt ist. Also die Menschen sind verzweifelt und wissen nicht mehr aus noch ein. Und deswegen finde ich, ist die Türkei im Moment an einem kritischen Kipppunkt. Und ausgerechnet das in dem Jahr vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen nächstes Jahr im Juni. Eigentlich wollte Präsident Erdogan natürlich ein Konjunkturhoch haben, damit er damit punkten kann, weil so ist er auch ins Amt gekommen. Also er ist gewählt worden, weil er das Glück hatte, dass die Vorgängerregierungen wirtschaftliche Reformen durchgeführt hatten, die er dann nutzen konnte und die er dann voll für sich verbuchen konnte. Und viele Menschen haben ihn gewählt und es war eine demokratische Wahl. Und auch wir Menschenrechtler haben gesagt es ist eine demokratische Wahl, die man anerkennen muss. Und wie ich schon am Anfang sagte, es war ja zu Beginn auch sehr positiv und jetzt sind wir an einem Punkt, wo er halt mit dem Thema Wirtschaft nicht mehr punkten kann. Aber sein Mantra ist weiterhin Wachstum, Wachstum, Wachstum und er tut alles dafür, dass er dieses Wachstum weiter generieren kann, damit er nächstes Jahr auch wieder die Wahlen gewinnt."

Amelie Berboth: "Gehen wir nochmal ein bisschen zurück: In Bezug auf verhaftete Personen wie Osman Kavala oder Idil Eser: Welche Schritte gegen die Türkei seitens Deutschlands und seitens Europas, also auch der Zivilgesellschaft, erhoffen sie sich?"

Selmin Çalışkan: "Also es gab es gab zum Beispiel den Schritt, dass der Europarat, dem die Türkei ja als Mitgliedsstaat angehört, ein Strafverfahren gegen die Türkei eingeleitet hatte. Das war im Dezember. Weil der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hatte 2019 schon die Freilassung von Osman Kavala angeordnet, aber der türkische Staat hat dieses Urteil einfach ignoriert und daraufhin hat dann der Europarat reagiert und hat ein Strafverfahren gegen die Türkei eingeleitet. Das sind total wichtige Dinge, die von außen dann mit Druck an die Türkei herangetragen werden können, auch wenn die Türkei das ignoriert. Die Türkei, der Staat, kann auch nicht ignorieren, dass sie über 50% ihrer Exporte in EU-Staaten durchführen. Das heißt, die Türkei ist sehr stark, gerade weil Erdogan auch sehr auf Exporte setzt in seiner Wirtschaftspolitik, sehr stark von der EU abhängig. Das heißt, die EU hat schon da auch Daumenschrauben, die sie ansetzen kann. Leider sind wir an einem Punkt in der EU, wo wir nicht mehr sagen können, dass alle in der EU pro demokratisch eingestellt sind, von den Regierungen her. Aber es gibt immerhin noch einige und ich finde, die müssen viel stärker Allianzen eingehen und auch Sanktionen auf der wirtschaftlichen Ebene androhen. Also eine Sache ist zum Beispiel, dass es seit 2016 diesen EU-Türkei-Deal gibt, um Flüchtlinge abzuwehren. Und diese Zusammenarbeit mit der EU wird im Rahmen von Sicherheit von Europa gehandelt. Das Thema Rechtsstaatlichkeit, zum Beispiel, Gewaltenteilung, Polizeigewalt, freie Wahlen und unparteiische, unparteiische Justiz, die Ermöglichung von Straßenprotesten, Frauenrechte, das sind alles Dinge, die nicht verhandelt werden in solchen wirtschaftlichen Abkommen. Und eigentlich fordern viele von uns, also ich jetzt als einzelne Person, aber auch als ich für Organisationen gearbeitet habe im Bereich der Menschenrechte, das ist eine ganz wichtige Forderung, wo dann die EU und auch der Europarat ansetzen könnten, um die Türkei noch mehr unter Druck zu setzen. Weil über dieses Vertragsverletzungsverfahren: ja, die Türkei ignoriert das, aber die Türkei wird nicht ignorieren, wenn es zum Beispiel jetzt um die Zollunion geht und es gibt weitere Verhandlungen darüber und die Türkei hat zum Beispiel letztes Jahr die EU sehr stark verärgert, indem sie illegitimer Weise im östlichen Mittelmeer nach Öl gebohrt hat und sich dann mit dem griechischen Staat angelegt hatte. Und beides sind ja NATO-Partner. Es ist auch sehr brisant an der Stelle und ich finde, gerade wenn es jetzt um diese Zollunion, um die sogenannte positive Agenda, die man mit der Türkei jetzt wieder aufnehmen möchte, muss es darum gehen, dass in diese wirtschaftlichen Abkommen Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Frauenrechte, Rechte von Minderheiten wie Geflüchteten, LGBTI rein verhandelt werden, weil sonst wird nicht viel passieren in der Türkei."

Amelie Berboth: "Nun sind ja viele Inhaftierte immer noch im Gefängnis und viele Personen sind auch gefährdet. Welche Unterstützung bietet Deutschland denn da momentan diesen gefährdeten Personen, zum Beispiel in der Türkei?"

Selmin Çalışkan: "In Bezug auf die deutsche Botschaft, zum Beispiel in Ankara und das Generalkonsulat in Istanbul, kann ich sehr positiv sprechen. Also aus eigener Erfahrung auch. Und ich weiß natürlich von anderen, dass die Botschaft immer wieder auch zu Prozessbeobachtungen gegangen ist, zum Beispiel auch in dem Prozess von Osman Kavala oder auch von anderen, die vor Gericht stehen unter fingierten Anklagen. Das ist sehr, sehr, sehr wichtig in solchen Kontexten, dass das dort Botschaftsvertretungen an Prozessen teilnehmen und dadurch eine internationale Beobachtung gewährleisten, von diesen Prozessen. Und das bleibt auch nicht ohne Wirkung. Und wichtig ist zum Beispiel auch, dass die Botschaft nicht ihre Türen und Fenster schließt. Es gab 2016 eine große Petition von Akademikern und Akademikerinnen, die sich gegen den Krieg, gegen den völkerrechtswidrigen Angriff gegen Afrin gestellt hatten. Das waren fast 3000 Akademiker:innen, die den unterschrieben haben und fast alle mussten das Land verlassen, wenn sie konnten. Es gab auch Einreiseverbote und es gab vor allen Dingen Berufsverbote. Das heißt, die Menschen konnten kein Geld mehr verdienen und sie haben auch ihren sozialen und professionellen, also ihren Berufsstatus verloren und müssen trotzdem in der Türkei bleiben. Und ich weiß, dass die deutsche Botschaft, ohne jetzt näher darauf eingehen zu wollen, da eine sehr positive Rolle gespielt hat. Und ich weiß auch, dass aus dem Auswärtigen Amt oder auch zum Beispiel Claudia Roth höchstpersönlich, immer wieder auch zu den Prozessen hingeflogen ist. Das finde ich, das finde ich wirklich sehr positiv, muss ich sagen. Und ich hoffe, dass das Engagement weiter zunimmt, was das angeht. Also viel mehr in Bezug auf das Finanzielle könnte man machen. Es gibt immer weniger Stiftungen, die in der Türkei Organisationen fördern können oder dürfen, weil es dafür auch Hürden gibt, inzwischen. Oder man wird bestraft als Organisation, wenn man von einer gewissen Stiftung Geld empfängt und wird dann vorgeladen ins Innenministerium, zum NGO Desk und man wird ausgefragt als Einschüchterung. Das weiß ich auch von Freunden, denen das passiert ist. Aber es gibt die europäische Delegation, die ihr Büro in Ankara hat und eine große Forderung auch von der Zivilgesellschaft ist, dass es eigene Finanzierungskanäle zwischen der EU und der Türkei geben sollte, sodass die Finanzierung halt nicht in die Hände der Regierung gelangt, sondern dass die Finanzierung für bestimmte Projekte gerade in diesen für die türkische Regierung unliebsamen Bereiche Frauenrechte, Rechte für Geflüchtete, Rechte für LGBTIQ. All diese Gruppen, dass die dann über die EU direkt finanziert werden können. Und es gibt sehr gute Erfahrungen damit, dass es gelingen kann. Und ich finde, das könnte man noch weiter ausbauen. Und das andere ist auch von der deutschen Regierung hier aus, also von Deutschland aus, jetzt nicht von der EU aus gesprochen, könnte man eigentlich viel mehr Pool Funding machen. Also, dass die Finanzierung durch das Auswärtige Amt dann an die türkische Zivilgesellschaft geht, weil andere zivilgesellschaftliche Partner, wie ich schon eben erwähnt hatte, denen werden Hindernisse zwischen die Beine gestellt, dass man das machen darf, dass man dorthin Geld schicken darf, zum Beispiel, damit bestimmte Projekte laufen. Und das sollte man eigentlich vom Auswärtigen Amt her noch stärker aufgreifen und gucken, wie kann man diese Finanzierung von dort aus gewährleisten?"

Amelie Berboth: "2021 wurde in der Türkei ein Gesetz verabschiedet, das es der Regierung erlaubt, Staatsbedienstete, also auch Richter:innen und Staatsanwält:innen, ohne gerichtliche Überprüfung zu entlassen aufgrund mutmaßlicher Verbindungen zu terroristischen Organisationen. Und jüngst hat das türkische Parlament trotz massiver Kritik ein neues Gesetz zur Bekämpfung von Desinformation verabschiedet. Dieses soll soziale Medien und Journalist:innen strenger regulieren und sieht bei Verstoß Haftstrafen von bis zu drei Jahren vor. Ich habe Selmin Çalışkan gefragt, was dieser Beschluss für die Meinungsfreiheit in der Türkei bedeutet."

Selmin Çalışkan: "Das ist eigentlich noch ein Level mehr jetzt. Wir wissen, dass seit den Gezi-Protesten zum Beispiel Facebook oder Twitter behindert wurden bzw. restriktiv behandelt wurden, sodass die Meinungsfreiheit dadurch schon eingeschränkt war. Dann gibt es sowieso den ganzen Komplex Journalismus.  Die Türkei rangiert eigentlich auf den unteren Listen weltweit, also auf dem Index, wo die meisten Journalisten und Journalistinnen im Gefängnis sitzen. Das heißt, die sitzen alle schon im Gefängnis, die jetzt die Regierung viel härter und stärker und fundierter hätten kritisieren können, also auch fachlich kritisieren können. Und jetzt dieses neue Gesetz, genau im Kontext der Wahlen nächstes Jahr soll eigentlich darauf abzielen, dass nun private Nutzer und Nutzerinnen eingeschränkt und bedroht werden. Man kann einfach für einen Like bis zu drei Jahren Haft bekommen. Die Türken benutzen die sozialen Medien sehr stark, so wie in anderen Ländern auch. Und es sollen einfach keine kritischen Bilder, keine kritischen Kommentare mehr ins Netz gesetzt werden, die die Regierung in ein schlechtes Licht rücken könnten. Und es geht an die privaten Nutzer und Nutzerinnen."

Amelie Berboth: "Welche Ziele verfolgte die türkische Regierung mit diesem neuen Medien- und Antidiskriminierungsgesetz? Vor allem mit Blick in die Zukunft?"

Selmin Çalışkan: "Eigentlich möchte die türkische Regierung jeglichen kritischen Dissens vermeiden, gar nicht mehr ermöglichen. Und ja, die Kritiker und Kritikerinnen stumm schalten. Erdogan, glaube ich, hat die Türkei nicht mehr unter Kontrolle. Das ist irgendwie so mein Gefühl, wenn ich jetzt von außen schaue. Ich reise selber seit 2015 auch nicht mehr in die Türkei. Auch durch meine Position bei Amnesty International und weil ich sehr viel auch im Kontext der Türkei menschenrechtlich kritisiert hatte. Das heißt, ich schaue auch von außen. Ich sehe einfach einen Kipppunkt, wie ich zu anfangs sagte. Also die Türkei steht jetzt an einem Punkt, wo sie rechtlich runtergewirtschaftet ist und auch wirtschaftlich runtergewirtschaftet ist und jetzt auch die Menschen, die eigentlich diese beiden Parteien, also die Koalitionsregierung unterstützt hatten, auch anfangen zu kritisieren bzw. auf die Straße zu gehen, weil sie befürchten am Ende des Monats nichts mehr zu essen zu haben. Also den Menschen steht das Wasser bis zum Hals und jetzt mit diesem neuen Gesetz, wird es ihnen verunmöglicht, im Netz sich zu organisieren, sich zu äußern, Politik zu kommentieren. Das heißt, es bleibt eigentlich nur noch die Straße und das Ausland. Die Zivilgesellschaft wird immer weiter eingeschüchtert und ihnen werden Klagen angedroht. Ihnen wird Gewalt angedroht. Sie wissen in der Türkei, wenn man zu Protesten auf die Straße geht, weiß man nicht, ob man heil wieder nach Hause kommt, um es einfach so zusagen. Das heißt, man nimmt ein sehr hohes persönliches Risiko auf sich, wenn man sich Straßenprotesten zum Beispiel anschließt. Auch in Bezug auf das Thema Frauenrechte und Straße. Weil die Frauen lassen sich irgendwie von der Straße nicht wegbekommen und die lassen sich auch nicht einschüchtern. Und ein großer Themenkomplex, der auch jetzt im Kontext der Wahlen benutzt wird, ist, dass das Thema Frauenrechte instrumentalisiert wird, um Erdogans religiös fundamentalistisch geprägte Autokratie noch weiter auszubauen. Und das neueste Thema ist, dass das Thema Kopftücher an öffentlichen Orten wie Schulen und Universitäten per Gesetz erlaubt werden soll. Und leider kam das von der Opposition, die sich erhofft hatte, dadurch konservative Wähler- und Wählerinnenstimmen zu schaffen. Aber das ist eigentlich ein Eigentor der CHP, also der sozialdemokratischen Opposition, gewesen, weil Erdogan hat das Thema aufgegriffen und sagt, er möchte jetzt ein Referendum dazu machen. Und mich würde es nicht wundern, wenn am Ende dabei rauskommt, dass plötzlich alle Frauen an den Universitäten und Schulen Kopftücher tragen sollen. Ja, das ist zurzeit die Situation. In der Türkei ist auch die Istanbul Konvention Thema gewesen letztes Jahr, weil die Türkei diese völkerrechtlich bindende Konvention des Europarates gegen Gewalt und sexualisierte Gewalt, häusliche Gewalt verlassen hat. Ungarn und Polen zum Beispiel hatten das auch angekündigt. Das heißt, die Türkei ist da ein schlechtes oder vielleicht ein autokratisches role model. Und das ist auch ein großes Thema gewesen, was auch wichtig ist zu erwähnen im Kontext von Demokratieentwicklung in der Türkei, weil es war eigentlich auch ein Eigentor von Erdogan, weil auch sehr religiös eingestellte und konservative Frauen waren dagegen, dass die Türkei die Istanbul Konvention verlässt, weil es ihnen natürlich dann die rechtliche Handhabe nimmt, sich gegen sexualisierte Gewalt, Kinderehen durchzusetzen. Und auch häusliche Gewalt ist sehr hoch in der Türkei und auch Femizide. Jeden Tag wird eine Frau durch Partnerschaftsgewalt in der Türkei ermordet und es gibt Straflosigkeit. Weit und breit in der Türkei herrscht Straflosigkeit und die Menschen haben das satt.  Ich hatte vor kurzem Austausch mit Studenten von der Boğaziçi Universität auch über ein Projekt, das über den Europarat finanziert wurde. Das zeigt, wie wichtig solche Projekte sind, weil die weiterhin auch Dialoge öffnen können. Es waren ganz unterschiedliche Studenten, die alle gesagt haben: "ne, das geht nicht". Es gilt Gleichberechtigung seit 1930 in der Türkei. Und das zeigt auch die Anzahl, die hohe Anzahl von studierten Frauen in der Türkei, also gerade Richterinnen, Lehrerinnen, Akademikerinnen, Managerinnen. Es gab und gibt einen sehr hohen Anteil, aber Erdogan hat eine Politik gefördert, die auf Teilzeit, auf Mutterschaft abgehoben und versucht einfach ein religiös fundamentalistisches Frauenbild zu etablieren und zu inszenieren. Und ja, wie gesagt, die Hälfte der Menschen in der Türkei sind keine Anhänger dieser Regierung und gehen dagegen auf die Straße. Und ich hoffe, das werden sie auch weiterhin tun."

Amelie Berboth: "Nicht nur in der Türkei, auch in Deutschland protestieren Menschen gegen den türkischen Präsidenten Erdogan und dessen Umgang mit Menschenrechten. Denn in Deutschland leben viele Türk:innen, die mit Sorge auf ihr Heimatland schauen. Auch Selmin Çalışkan ist Tochter einer türkischen Arbeiterfamilie. Zum Schluss also noch die Frage: Wie würde sie die diplomatischen, aber auch die kulturelle Beziehung zwischen der Türkei und Deutschland beschreiben?"

Selmin Çalışkan: "Eine Freundin von mir sagte mal die Türkei ist das 17. Bundesland. Das fand ich irgendwie sehr schön ausgedrückt. Es ist natürlich nicht so, aber die türkische Community mit fast 3 Millionen Türkischstämmigen hier in Deutschland, ist natürlich groß, ist seit 60 Jahren hier. Meine Eltern gehören zu denen, die 1960/61 gekommen waren, um hier zu arbeiten. Und die Türkei ist dadurch sowieso schon innerhalb der deutschen Gesellschaft verwurzelt, weil es uns gibt mit 3 Millionen. Und außerdem liegt die Türkei ja auch total nah an Deutschland dran. Also geografisch ist sie sehr nah vor Deutschlands Haustüre oder vor Europas Haustüre. Ist eines der beliebtesten Urlaubsländer, wo Deutsche gerne hinreisen. Das ist so das eine. Das andere, was ich sehe, ist natürlich die Solidarität. Zum Beispiel in Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine, wo die deutsche Regierung und auch die EU-Regierung ganz anders plötzlich zum Beispiel den Umgang mit Geflüchteten, welche Rechte Geflüchtete haben sollen und könnten. Das geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Es ist super positiv. Ich würde mir das auch so wünschen mit Menschenrechtsverteidiger:innen aus der Türkei. Viele von denen sind zum Beispiel auch nach Berlin gekommen, um hier im Exil zu leben, wollen aber natürlich so schnell wie möglich wieder zurück. Die Türkei ist ganz nah und doch ganz fern. Es gibt viele Aufnahmeprogramm für unterschiedliche Menschenrechtsverteidiger:innen. Zum Beispiel die Philipp Schwartz-Initiative oder die Martin Roth-Initiative für Künstler und Künstlerinnen, Elisabeth-Selbert-Initiative. Das sind alles Schutzprogramme des ifa. Eins kenne ich besonders gut, weil ich lange im Auswahl Gremium war bei der Martin Roth-Initiative für Künstler und Künstlerinnen. Es ist wichtig, diese Programme weiter auszubauen und es ist richtig, dass Deutschland sich da sehr stark engagiert und jetzt ein eigenes Aufnahmeprogramm, ein Schutzprogramm für Journalistinnen und Journalisten gemacht hat. Das gilt natürlich nicht nur für die Türkei. Das gilt für alle Länder, wo Menschenrechtsverletzungen herrschen und wo Menschen, die kritisch sind, ihre Meinungsfreiheit und ihre Grundrechte nutzen, nicht mehr leben und arbeiten können, weil sie von den Behörden und von der Regierung verfolgt werden. Das ist einfach super, dass Deutschland das macht. Aber ich glaube, es muss ausgebaut werden, weil es gibt viele Länder, die nicht mehr offen sind, wo es den sogenannten "Shrinking Civic Space" gibt, wo die Handlungsspielräume für zivilgesellschaftliche Akteure und Akteurinnen immer kleiner gemacht werden. Und ich finde, Deutschland hat da eine große Aufgabe und Rolle, viel aktiver reinzugehen und sich zu positionieren und auch in der politischen Weltarena zu sagen, dass sie für Menschenrechte, Grundrechte auf, auf Minderheitenschutz und für Demokratie stehen. Das macht Deutschland teilweise, macht es aber auch nicht. Ich nehme da sehr wahr die Grünen und die SPD und die Linken, aber zum Beispiel die CDU oder die FDP, nehme ich jetzt zum Beispiel das Thema Wahlbeobachtung, was ich eben erwähnte, bei den Prozessbeobachtungen in Bezug auf Osman Kavala, da sehe ich niemanden. Und für mich ist es wichtig, dass alle demokratisch verfassten Parteien in Deutschland sich ganz klar positionieren gegen autoritäre Staaten und deren Praktiken. Und Positionierung heißt auch, sich um die Menschen zu kümmern, die diese Fahne hochhalten in ihren Ländern und dann plötzlich fliehen müssen, weil sie verfolgt werden. Und die sind in meinen Augen weiterhin demokratisches Kapital, was geschützt werden muss. Die Menschen sind wichtige Brückenbauer und haben sehr viel fachliche Expertise zu verschiedensten Themen und auch zu den Ländern, aus denen sie fliehen. Die sollten in Deutschland eine Heimat finden, solange sie das wollen. Und Deutschland sollte die Menschen unterstützen und nicht nur das Kapital schützen, sondern auch die Menschen in ihrer Funktion für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte unterstützen. Also dass zum Beispiel auch so jemand wie Sezen Aksu, also so die Sängerin und die Krone für eine liberale, säkulare Türkei auch dann durch Präsident Erdogan indirekt vom Freitagsgebet aus zur Verfolgung, zum Abschuss wollte ich fast sagen, freigegeben wird. Und sie ist nicht die einzige. Auch die Professorin, Ayşe Buğra, die Partnerin von Osman Kavala, die war das dann zuvor. Also es werden so Hetzjagden, so Online-Hetzjagden, aber auch im wirklichen Leben inszeniert von der Regierung. Die Menschen, die übrig geblieben sind, die nicht im Gefängnis sind, die nicht im Exil sind, die immer noch sagen, was sie denken und die, die einfach weitermachen, und davon gibt es einige, das sind jetzt wahrscheinlich diejenigen, die im Kontext der Wahlen nächstes Jahr noch mehr ins Visier geraten werden, weil Erdogan auch die zum Verstummen bringen möchte, weil die ihn natürlich stören, wie ein Stein im Schuh sind."

Amelie Berboth: "Die Kritik an Präsident Erdogan wächst und wächst. Auch innerhalb des eigenen Landes. Viele Menschen haben die Türkei verlassen, weil sie befürchten in ihrer Heimat inhaftiert zu werden, wenn sie öffentlich ihre Meinung äußern. Viele Aktivist:innen, wie zum Beispiel Osman Kavala, sitzen aus fadenscheinigen Gründen im Gefängnis. Selmin Çalışkan befürchtet, dass es mit Hinblick auf die Parlamentswahlen in der Türkei im nächsten Jahr, zu noch mehr Verhaftungen kommen wird. Deshalb sei es jetzt besonders wichtig genau hinzuschauen. Auch deutsche und europäische Institutionen und Politiker:innen sollten klar ihre Solidarität mit verfolgten und inhaftierten Personen ausdrücken und den universellen Wert der Menschenrechte auch im Ausland unterstreichen. Danke an Selmin Çalışkan für das Interview und auch danke euch fürs Zuhören. Feedback aller Art wie immer gerne an podcast@ifa.de. Mein Name ist Amelie Berboth. Wir hören uns bald wieder. Tschüss!"

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