WarTok: Der Ukrainekrieg auf Social Media.

Podcast mit Christian Stöcker

Als Russland vor einem Jahr die Ukraine überfiel, war es möglich in Echtzeit das Vorrücken der russischen Truppen, Raketenangriffe oder ukrainische Proteste in den sozialen Medien zu verfolgen. Die New York Times sprach vom "ersten TikTok Krieg".

In dieser Folge "Die Kulturmittler" erklärt der Autor und Psychologe Christian Stöcker, inwiefern sich die Kriegsberichterstattung durch die sozialen Medien verändert hat. Jeder Mensch kann mit einem Smartphone unmittelbar Nachrichten in die Welt senden und durch TikTok, Twitter und Co. die klassischen Gatekeeper wie Nachrichtenredaktionen und deren Filter umgehen. Außerdem analysiert Christian Stöcker, die Kommunikationsstrategie des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in den sozialen Netzwerken.

Es ist eine Grafik zu sehen. Ein weißer Kreis in der Mitte, umgeben von einem blauen Streifen über die obere Hälfte und einem gelben über die untere Hälfte. Im Kreis ist eine Illustration eines Mannes zu sehen. Er trägt kurzes Haar und einen Dreitagebart. Unter ihm steht in schwarzer Schrift Christian Stöcker, über ihm Die Kulturmittler, im rechten Eck der Illustration sieht man das Logo des ifa – Institut für Auslandsbeziehungen in schwarz auf dem gelben Hintergrund. Es handelt sich um das Cover einer des sechs Sonderfolgen zur Ukraine des ifa-Podcasts "die Kulturmittler". Der Autor und Psychologe Christian Stöcker spricht in dieser Folge über den Einfluss und Wirkung des sozialen Medien im Ukrainekrieg. Illustration von Lea Dohle.
© Lea Dohle

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Transkript der Folge

Folge #47: WarTok: Der Ukrainekrieg auf Social Media. Mit Christian Stöcker

Amira El Ahl: Hallo und herzlich Willkommen zu einer neuen Folge von "Die Kulturmittler", dem ifa-Podcast zur Außenkulturpolitik. Mein Name ist Amira El Ahl und ich freue mich sehr, dass Sie mit dabei sind. Vor einem Jahr begann der russische Überfall auf die Ukraine. Einer der Besonderheiten dieses Krieges ist die starke Präsenz in den sozialen Medien. Die New York Times nannte ihn sogar den ersten TikTok-Krieg. Wir möchten in der heutigen Folge herausfinden, inwiefern die sozialen Medien den Krieg beeinflussen, wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die sozialen Netzwerke nutzt und welche Auswirkungen das auf die Politik hat. Um diese Fragen zu beantworten, haben wir den Autoren und Psychologen Christian Stöcker eingeladen, er ist unter anderem Professor für digitale Kommunikation an der Hochschule für angewandte Wissenschaft in Hamburg. Er schreibt Kolumnen für den Spiegel und war Sachverständiger für die Bundesregierung zur Auswirkung von Digitalisierung und Algorithmen. Herzlich willkommen hier im Podcast, Christian Stöcker!

Christian Stöcker: Ich freue mich, dass ich da bin.

Amira El Ahl: Danke. Herr Stöcker, die New York Times schrieb vom ersten TikTok-Krieg, und auch Sie selbst twitterten zwei Tage nach Beginn des Krieges, dass dieser als erster Krieg in der Geschichte auch auf Social Media geführt wird, zwar mit einem kleinen, aber durchaus wichtigen Anteil. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat in einer Ansprache, kurz nach Beginn des Krieges, auf Russisch Nutzer:innen der Plattform TikTok direkt angesprochen, dass sie helfen könnten, den Krieg zu beenden. Das Stichwort "WarTok", also die Zusammensetzung aus Krieg und TikTok, spielt ebenfalls auf diese App an. Was macht denn dieses soziale Netzwerk TikTok so einflussreich in diesem Krieg?

Christian Stöcker: TikTok ist bei einer bestimmten Kohorte einfach das wichtigste soziale Medium mittlerweile. Also, ich würde sagen, alles, was unter 20 ist, ist wahrscheinlich stärker bei TikTok als bei – auf Platz zwei wahrscheinlich mittlerweile – Instagram vertreten. Das ist das eine. Es ist für eine bestimmte Zielgruppe ein ganz zentraler Medienkanal, viel zentraler als lineares Fernsehen oder andere Kanäle. Das gilt aber natürlich für diese Altersgruppe. Es gibt wahrscheinlich jetzt nicht wahnsinnig viele TikTok-Nutzerinnen und -nutzer jenseits der 50, aber bei den Leuten, die TikTok intensiv nutzen, ist die Nutzung eben auch sehr intensiv. Das ist ja so: Sie sehen irgendwie ein kurzes Video, das ist mit Musik unterlegt. Der ursprüngliche Ausgangspunkt ist musical.ly, also eine App, wo es eigentlich darum ging, zu Popsongs seine Lippen zu bewegen, also Lipsyncing, was eine Zeit lang so ein Internettrendsport war. Daraus wurde dann diese Plattform mit kurzen Musikschnipseln, zu denen die Leute irgendwelche Videoinhalte produzieren. Und dieses Format eignet sich perfekt zu einem zapping-artigen Verhalten. Man hat das Smartphone in der Hand und wischt sich durch ein Video nach dem anderen und wenn es einem gefällt, guckt man es sich vielleicht nochmal an oder dreimal. Es läuft in einem Loop und wenn es mich nicht mehr interessiert, wische ich weiter. Und jetzt kommt der zweite Faktor dazu: TikTok trackt extrem genau, was die Nutzerinnen und Nutzer da machen und wie sie sich verhalten und wie lange sie bei einem bestimmten Inhalt bleiben oder was sie kommentieren, was sie liken und so weiter. Das machen alle Plattformen. Aber bei TikTok ist eben dieses Verweildauer-Thema und wie oft hat er sich diesen einen Loop dann angeguckt ein ganz zentraler Punkt. Und wenn Sie TikTok darauf trainieren wollen, ihnen bestimmte Dinge vorwiegend zu zeigen, dann müssen sie nur darauf achten, dass sie einfach diese Art von Videos ein paar mal angucken und bei allen anderen schnell weiterwischen. Dann lernt der Algorithmus oder das Machine-Learning-System, das da unten drunter liegt, sehr schnell, Ihnen entsprechende Inhalte in immer größerer Zahl zu zeigen. Nach dem gleichen Prinzip funktionieren alle sozialen Medien. Sie beobachten, was Ihnen gefällt und zeigen Ihnen dann mehr davon. Aber TikTok macht das wahrscheinlich ausgeprägter als alle anderen. Das ist der zweite Faktor und der dritte Faktor ist, das ist ganz wichtig, die Art und Weise, wie Videos viral werden können. Das ist bei TikTok ein bisschen anders, als bei den meisten anderen Plattformen, weil die so ein hierarchisches System haben. Im Prinzip wird jedes neue Video einer kleinen Gruppe von Nutzerinnen und Nutzern erstmal gezeigt. Wenn es da funktioniert, also wenn die Leute es sich einmal ganz angucken oder mehrmals angucken, dann wird es einer nächst größeren Größenordnung gezeigt. Also zehn, hundert, tausend, zehntausend - es springt immer auf die nächste Hierarchieebene, wenn es in der vorangegangenen Stichprobe gut gelaufen ist, was bedeutet, dass im Prinzip jedes Video auf TikTok die Chance hat, ein virales Video zu werden. Auch eins von einem Account, dessen Inhalte bis jetzt noch praktisch kein Publikum hatten, weil es, wenn es weit genug durch diese Viralitätshierarchie gehüpft ist, plötzlich ein riesengroßes Publikum hat. Also die Kurven, mit denen die Popularität von bestimmten TikTokern oder eben auch bestimmten einzelnen Videos ansteigt, die sind viel steiler als die in anderen sozialen Medien.

Amira El Ahl: Vor allem hat TikTok, glaube ich, weltweit rund eine Milliarde Nutzer:innen. Also wenn etwas viral geht, dann geht das richtig viral.

Christian Stöcker: Genau also, was viral ist, ist nicht notwendigerweise in allen Weltregionen gleich. Es kann schon sein, dass sie, wenn sie in Deutschland leben, da was anderes zu sehen kriegen als eine US-Nutzerin oder irgendjemand in Brasilien. Das ist nämlich der letzte Faktor, diese individuell kuratierten Feeds, das erschließt sich ja auch schon aus dem voran Gesagten. Also, wenn ich mir längere Zeit immer wieder die gleichen Dinge angucke, dann kriege ich davon eben mehr gezeigt. Das führt auch dazu, dass die einzelnen Feeds von einzelnen Nutzerinnen und Nutzern sich dramatisch unterscheiden unter Umständen. Es gibt sicher ein paar Dinge, virale Trends, wo man sagen kann, das ist gerade auf TikTok los. Aber was einzelne Leute wirklich in ihrem Feed sehen, kann sich absolut dramatisch unterscheiden und Sie können unter Umständen auch zwei komplett konträre Versionen der Realität sehen, in zwei unterschiedlichen TikTok-Feeds.

Amira El Ahl: Das ist interessant, weil andere Kriege zuvor hauptsächlich über die klassischen Medien gelaufen sind. Also im Irakkrieg gab es die im "Embedded Journalists", also Journalisten, die im US-Panzer mitgefahren sind oder an der Front waren, dann mehr oder weniger live berichtet haben. Der Vietnamkrieg war der erste Krieg, der im Fernsehen gezeigt wurde. Wie unterscheidet sich das von dem, was wir jetzt aus der Ukraine sehen, weil dann offensichtlich ja ganz viele Leute unterschiedliche Nachrichten bekommen, wenn ich unterschiedliche Feeds habe, wie Sie gerade gesagt haben.

Christian Stöcker: Da kommen jetzt alle Faktoren zusammen, die ganz generell in einer Welt mit sozialen Medien und sendefähigen Geräten in jeder Hand das mediale globale Ökosysteme verändern. Das ist im Krieg natürlich besonders ausgeprägt, aber das gleiche Phänomen sehen wir sonst auch. Ein ganz plastisches Beispiel ist das Video von George Floyd, auf dessen Hals ein Polizist kniet, bis er stirbt. Das ist ein Medieninhalt, der stammt aus dem Handy irgendeiner amerikanischen Passantin, wird zu einem viralen Phänomen, erst mal über soziale Medien. In dem Fall, glaube ich, primär über Twitter, aber dann auch über andere soziale Medien. Daraufhin wird es dann zum Inhalt klassischer Medienberichterstattung und gleichzeitig ist es aber ein überdauerndes Zeitdokument, das geschaffen wird von einer Person, die bis dahin nicht Journalistin war und danach sicher auch nicht Journalistin geworden ist. Und so sind jetzt alle, die ein Smartphone in der Tasche haben, immer potenziell global viral wirkmächtige Augenzeugen von beliebigen Ereignissen. Jetzt erzeugt natürlich so ein Krieg eine unfassbare Menge von dramatischen, entsetzlichen, beeindruckenden, vielleicht rührenden, manchmal auch witzigen, so zynisch sich das anhört, Bildern, Sequenzen, Ereignissen, die Content sind. Ich habe mir gerade noch mal ein Video angeguckt, das am Anfang des Kriegs für Furore gesorgt hat, weil das damals ein ukrainischer Nachrichten-Twitteraccount weiterverteilt hat. Da ist ein Mann, der in der Ukraine mit einer aus dem Mundwinkel hängenden Zigarette eine Miene aus dem Straßengraben fischt und dann vorsichtig vor sich her trägt, entspannt in den benachbarten Wald schlurfend, um da irgendwo die Mine abzulegen, wo niemand drauftreten kann. Das hat Abermillionen von Zuschauerinnen und Zuschauern gefunden, dieses Video. Solche Bilder produziert ein Alltag in einer westlichen Industrienation normalerweise nicht. Und so bitter das ist, Content der knallt ist was, was auf sozial medialen Plattformen immer virales Potenzial hat und welcher, der bedrohlich und emotional ist, erst recht.

Amira El Ahl: Aber was macht das denn mit uns als Konsument:innen oder User:innen, wenn wir ungefiltert solche Bilder und auch Bilder von Zerstörung und Gräueltaten aus dem Krieg sehen, wie wir sie dann auf solchen Plattformen ständig haben, ohne dass das journalistisch eingeordnet wird? Weil das passiert ja dann nicht mehr. Wie Sie sagten, das George-Floyd-Video, da ist plötzlich jemand Journalist geworden, der kein Journalist ist. Also was passiert da mit uns?

Christian Stöcker: Auch bei dem George-Floyd-Video ist es ja schon so, dass es auch in den USA Leute gab, also Fachleute aus dem Bereich der Psychologie und so weiter, die sagen, es empfiehlt sich auch ein bisschen Vorsicht im Umgang mit sozialen Medien bei solchen Themen. Jemand, der sich dieses Video anguckt und selber vielleicht schon mal traumatisiert war, selbst mit Polizeigewalt zu tun hatte oder aus irgendwelchen anderen Gründen anfällig dafür ist, der kann auch von so einem Video, in dem ja jemand stirbt, das acht Minuten dauert, wenn er sich das komplett anschaut, natürlich traumatisiert werden, ist ja klar. Ein Krieg erzeugt noch viel mehr entsetzliche, traumatisierende, dramatische Bilder. Das gilt aber auch wiederum nicht nur für einen Krieg, das gilt genauso für Bilder von Rettungsarbeiten nach dem Erdbeben in der Türkei beispielsweise. Die Gefahr, dass man als Nutzerin und Nutzer von sozialen Medien plötzlich konfrontiert ist mit Bildern, die man sich eigentlich lieber nicht hätte angeschaut haben sollen oder die man sich auch nicht freiwillig angeguckt hätte, wenn man vorher gefragt worden wäre, die ist einfach groß. Das ist tatsächlich so. Der Tatsache muss man ins Auge sehen. Bei TikTok ist es zumindest so, dass Sie, wenn Sie feststellen, verdammt, das ist ja entsetzlich was ich da sehe, ganz schell mit einer Daumenbewegung das Programm wechseln und weiter wischen können. Aber das bedeutet natürlich nicht, dass die Gefahr nicht total real ist, dass Leute durch ihren sozialen Medienkonsum traumatisiert werden. Zumal wenn sie von der entsprechenden Grundhaltung sind oder sich davon nicht lösen können, kann es auch sein, dass sich Leute dann stundenlang damit beschäftigen und gar nicht mehr aufhören können, obwohl sie selber merken, dass sie da irgendwie drunter leiden. Aber irgendwie die Faszination so groß ist, dass sie sich ihr auch nicht entziehen können. Das ist kein triviales Problem.

Amira El Ahl: Was macht das denn mit einer Gesellschaft? Also wenn sie ihre Informationen nur noch aus sozialen Medien zieht oder primär? Sagen wir mal, die Gruppe unter 20, haben Sie ja gesagt, die guckt sich nicht mehr lineares Fernsehen an.

Christian Stöcker: Die meisten Leute, die in ihrem Alltag TikTok zur Unterhaltung benutzen, die sehen vermutlich eher nicht irgendwelche Kriegsgräuel aus der Ukraine, jedenfalls nicht dauernd. Das ist nicht so, dass das dann mal eben dazwischen gestreut wird, sondern das ist schon eine ziemlich spezielle Zielgruppe, die sich so was antut, glaube ich. Eine Zielgruppe, die dem Algorithmus mit ihrem Verhalten signalisiert, so was interessiert mich besonders, das machen die meisten Leute wahrscheinlich eher nicht. Das ist kein ganz neues und auf TikTok beschränktes Phänomen. Also, es gibt zum Beispiel schon seit vielen Jahren bei YouTube so eine Art Subgenre von Bildern, Bewegtbild, das produziert wird von Leuten, die für den IS kämpfen, oder für irgendwelche andere Terrororganisationen. Wo man sich angucken kann, wie jemand in ein Auto steigt, das vollgeladen ist mit Kanistern voller Bezin und dann kommt ein frommer Soundtrack dazu und dann sieht man, wie das Auto an irgendeinem Checkpoint explodiert. Oder ein offensichtlich schwerverletzter Soldat, der noch mal in die Kamera winkt, in Selfie-Haltung, bevor er dann tot niedersinkt. Also, es gibt schon lange die Möglichkeit, sich etwas, das früher als Snuff-Video gegolten hätte, sozial medial selbst anzugucken. Die Frage, was macht das mit einer Gesellschaft, ist extrem schwer zu beantworten, denn es ist eben nicht die ganze Gesellschaft, die sich dem aussetzt und die dem ausgesetzt ist. Aber es gibt sicher Leute, die sich dem aussetzen und mit denen macht es ganz bestimmt was, davon ist auszugehen. Im Zusammenhang mit TikTok würde ich sagen, wäre es sicher sinnvoll, wenn sich Schulen beispielsweise mit dem Thema mal ein bisschen intensiver auseinandersetzen würden. Aber da ist ja die generelle Überforderung mit "meine Güte, diese ganzen Teenager sind unbeaufsichtigt in den sozialen Medien unterwegs" ohnehin schon relativ groß.

Amira El Ahl: Das stimmt. Wie haben sich denn die sozialen Medien und die dortigen Inhalte dann während des Krieges weiterentwickelt? Gab es andere Inhalte zu Beginn dieses Angriffskriegs, oder im Vergleich zu heute, gibt es da Unterschiede?

Christian Stöcker: Ich würde mir jetzt nicht anmaßen zu behaupten, dass ich da irgendwie einen vollständigen Überblick habe, wie sich das entwickelt hat. Im Grunde funktionieren sozial mediale Aufmerksamkeitszyklen auf einer bestimmten Ebene gar nicht so anders, als die in traditionellen Medien. Auch große Redaktionen, auch die Tagesschau und so weiter, haben dem Ukrainekrieg im Februar, März, April, Mai 2022 mehr Sendezeit eingeräumt als jetzt. Das muss man so hart sagen. Was nicht daran liegt, dass der Krieg jetzt weniger schrecklich wäre oder weniger relevant, sondern so funktionieren Aufmerksamkeitszyklen von medialer Berichterstattung. Der Krieg ist jetzt nicht mehr neu und dadurch ist es ein Thema unter anderen, so bitter das ist. So ähnlich ist es in den sozialen Medien, glaube ich, auch. Diese ganz große, auch emotionale Anteilnahme eines westlichen Publikums an diesem Krieg und an dem, was Tag für Tag da vor Ort passiert – ich habe jetzt keine Daten, um das zu hinterlegen, das ist eher so ein Gefühl –, aber ich glaube, auch die hat etwas abgenommen. Die viralen Phänomene, wie der tanzende Soldat oder die sich im Nachhinein als Hoax herausgestellt habende Geschichte über den Ghost of Kyiv, der angeblich so viele russische Kampfflugzeuge abgeschossen hat, sind seltener geworden und ein bisschen stärker in den Hintergrund getreten. Die Kommunikation von Wolodymyr Selenskyj findet natürlich immer noch massiv über die sozialen Medien statt, ganz klar, und er ist da immerzu präsent und er verarbeitet alles, was er sonst so tut, auch immer sozial medial weiterhin. Aber ich glaube, die für ihn und für die Ukraine wichtigere Kommunikation ist jetzt doch eher an den Stellen, wo Leute Entscheidungen treffen, also mit Liveschalte in den UNO-Sicherheitsrat und in alle möglichen EU Gremien, in den US-Kongress et cetera. Er ist im Endeffekt weiterhin digital medial vermittelt, oft, manchmal fährt er auch selbst wohin, so wie jetzt gerade nach Großbritannien. Aber insgesamt ist die Kommunikation von Wolodymyr Selenskyj immer noch eine sozial mediale, aber sie ist jetzt auch, viel mehr als am Anfang, eine traditionell staatsmännische, wenn auch über soziale Medien mitvermittelt.

Amira El Ahl: Das heißt, seine Medienstrategie hat sich dann auch über das Jahr verändert und weiterentwickelt, so ein bisschen weg von diesen Medien?

Christian Stöcker: Das würde ich nicht sagen. Ich glaube, weg ist er da nicht. Also, wenn Sie gerne aktuellen Wolodymyr-Selenskyj-Content bei Twitter oder TikTok oder sonst wo sehen wollen, dann werden Sie nicht enttäuscht. Ich glaube, dass die Aufmerksamkeit der Leute, die da nicht extremes Interesse daran haben und diesen Inhalten entgegenbringen, ein bisschen zurückgegangen ist. Nicht jedes Mal, wenn man sich Wolodymyr Selenskyj vor eine Kamera setzt und was sagt, was dann anschließend bei Twitter verbreitet wird, ist das ein viraler Welthit. Das war aber am Anfang der Fall, das folgt eben den klassischen Aufmerksamkeitszyklen. Am Anfang, da weiß ich nicht, ob das wirklich strategisch war. Das war einfach relativ intuitiv, der Umgang mit den sozialen Medien im Kontext des Krieges, mit einer sehr steilen Lernkurve. Man hat ja auch sehr schnell dann gesehen, wie gut das funktioniert. Dieses Video, wo Selenskyj im olivgrünen T-Shirt mit anderen Ministern seines Kabinetts zusammen, irgendwo draußen im Dunkeln steht und in die Kamera sagt, wir sind in Kiew und wir gehen hier auch nicht weg, das wird ein historisches Dokument, das aus dem Gedächtnis der Welt wahrscheinlich nicht mehr verschwinden wird. Aber das gilt natürlich für die meisten anderen Videos, die er seitdem gemacht hat nicht mehr in der gleichen Weise. Also, es ist immer noch da, es ist immer noch ein wesentlicher Bestandteil, aber das, was er jetzt im politischen Tagesgeschäft nutzt und wichtig ist, sind eher Gespräche mit Leuten, die Entscheidungen treffen können. Entscheidungen über welche Waffen werden jetzt geliefert, und welche Art von Unterstützung kommt eigentlich in der Ukraine an und so weiter.

Amira El Ahl: Er hat ja auch ganz gezielt diese Videoansprachen, von denen Sie jetzt sprechen, genutzt, um Druck auf die westliche Politik und Unternehmen auszuüben. Wie hat das denn funktioniert und funktioniert dieser Druck auch nach einem Jahr Krieg weiterhin, oder hat sich das auch ein bisschen abgenutzt?

Christian Stöcker: Ja, das ist eine große Frage. Also ich glaube, dass die große Solidarität in Westeuropa und in den USA, die der Ukraine entgegenschlägt, sicher nicht unwesentlich damit zu tun hat, dass er das gut gemacht hat. Das kann man schon sagen. Es ist immer extrem schwierig, in solchen Kontexten Kausalzusammenhänge aufzumachen. Hätte Politikerin X sich in Situation Y anders entschieden, wenn Wolodymyr Selenskyj weniger effektiv Social-Media-Arbeit gemacht hätte? Ich weiß es nicht. Aber politisch gravierende Richtungsänderungen wie in Deutschland, was zum Beispiel Waffenlieferungen angeht, politisch durchzusetzen, das hat sicher auch was damit zu tun, dass da eben sehr effektiv kommuniziert wurde. In einer Art und Weise, die nicht nur Politik erreicht, sondern auch Bevölkerung. Dass man direkt die Leute anspricht, auf die deutsche Politikerinnen und Politiker dann wiederum stärker reagieren als möglicherweise auf Leute, die in der Ukraine sitzen. Ich glaube schon, dass das eine sehr effektive Methode war, insbesondere in den westlichen Demokratien, diese politische Unterstützung schnell und effektiv zu mobilisieren. Und das war sicher von Selenskyj auch strategisch so gemacht und ich glaube, dass er da erfolgreicher war als irgendjemand vor ihm. Aber die Situation ist natürlich auch ziemlich einzigartig, dass ein Land wie die Ukraine von seinen Nachbarn in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg einfach attackiert wird.

Amira El Ahl: Glauben Sie, dass Selenskyjs Auftreten und sein Umgang mit den sozialen Medien auch andere Politiker:innen beeinflusst oder beeinflusst hat? Eben diese Strategie, die er nutzt, diese politische Kommunikation?

Christian Stöcker: Ja, man muss natürlich auch sagen, der Mann kann das natürlich auch besonders gut, weil das sein Beruf ist. Der ist eben Schauspieler, der weiß, wie das geht. Da wurde am Anfang auch viel zynisch drüber gesprochen. Aber mittlerweile kann ihm eigentlich niemand mehr vorwerfen, dass er da jetzt nur eine Show abzieht. Aber das ist jetzt auch nicht jedem gegeben, nicht jeder kann das in der gleichen Weise und es ist eine besonders extreme Situation. Soziale Medien sind Medien, die ,ob ihrer Konstruktion, emotionale Inhalte nach oben spülen. Das ist das, was am besten läuft. Das größte virale Potenzial haben emotionale Inhalte, eindruckmachende, ehrfurchthervorrufende, aber eben auch negative soziale Inhalte und angstauslösende oder wutauslösende und so weiter. Das ist empirisch relativ klar gezeigt. Und was könnte es emotionaleres geben als ein vergleichsweise kleines Land, das von einer riesigen benachbarten Atommacht auf diese Art und Weise brutal angegriffen wird? Man kann jetzt nicht sagen, deswegen hat Wolodymyr Selenskyj so und so kommuniziert und wenn das jetzt andere so machen, dann sind sie genauso erfolgreich wie er. Das ist schon eine ziemlich spezielle Situation, in der diese Art der Kommunikation so extrem erfolgreich war. Aber gleichzeitig muss man sagen, dieses "ich spreche als Politiker ein Publikum direkt an und versuche dabei, authentisch zu wirken", das macht ja nicht nur Selenskyj, das macht zum Beispiel auch Klitschko sehr effektiv in der Ukraine. Das wird als Phänomen sicher bleiben, und es ist, da mache ich mich jetzt unbeliebt, wenn ich diese Parallele ziehe, aber es ist auch nicht ganz neu. Donald Trump ist jetzt nicht auf TikTok, soweit ich weiß, aber die sozialen Medien als direktes Sprachrohr ohne Umwege über redaktionelle Bearbeitung hin zum Publikum zu suchen, das hat natürlich Donald Trump auch schon vorgemacht. Das kann man auch auf sehr unterschiedliche Weise betreiben und in sehr unterschiedlichen Absichten dieses Geschäft.

Amira El Ahl: Wo Sie von Trump sprechen, und Sie sagten auch gerade, dass negative soziale Inhalte eben auch nach oben gespült werden, müssen wir auch noch mal auf Russland zu sprechen kommen. Jahrelang hat Russland ja unter anderem mit Trollfabriken Desinformationen, sogenannte Fake News, verbreitet. Ich habe gelesen, sie mögen diesen Begriff gar nicht?

Christian Stöcker: Nein, den mag ich gar nicht. Ich erkläre auch gleich nochmal, warum.

Amira El Ahl: Ja, im Zusammenhang mit Trump ist das wahrscheinlich auch schwierig, der Fake News so nach oben gespült hat. Aber diese Desinformationen wurden von den Trollfabriken in den sozialen Netzwerken gestreut. Wie sehr verfängt das heute noch und wie nutzt Russland auch die sozialen Medien für seine Zwecke?

Christian Stöcker: Wir können da immer nur mit Indizien operieren. Es ist oft sehr schwierig, da klare Belege und Linien zu finden, wer hat wann, wem was gesagt und so weiter. Aber was wir extrem deutlich sehen, ist, dass Russland im Zusammenhang mit diesem Einmarsch einen gigantischen Propagandakrieg führt und schon vorher geführt hat. Also konkretes Beispiel, das wir uns in dem Forschungsprojekt angeguckt haben: Drei Tage vor dem Einmarsch wird von irgendeinem russischen, bis dahin gar nicht so besonders aktiven Telegram-Kanal – also Telegram, dieser Messengerdienst, mit dem man aber auch ein großes Publikum erreichen kann, wenn man will, mit dem man Kanäle betreiben kann, die hunderttausende von Followern haben – ein Dokument lanciert, dem angeblich zu entnehmen ist, dass die Ukraine versucht, beim türkischen Drohnenhersteller Baykar Drohnen zu bestellen, mit denen man Aerosole versprühen kann. Das wird dann wenige Tage nach dem Angriff Russlands auf Kiew in den Kontext gestellt von angeblich in der Ukraine existierenden Biowaffenlaboren, die vom Pentagon betrieben werden. Und einem angeblich bevorstehenden Biowaffenangriff auf den Donbass, den man mit dem Einmarsch habe verhindern müssen. Also mit anderen Worten, es wird vor Kriegsbeginn ein, in Anführungszeichen, Beweis lanciert, den man dann nach Kriegsbeginn wieder hervorziehen kann, um zu sagen: "Aha, hier sieht man, das war der eigentliche Anlass, es gibt diese Biowaffenlabore". Diese Biowaffenlaboregeschichte, die erzählt Russland über seine unterschiedlichsten Nachbarstaaten schon seit vielen Jahren, also über Georgien und Kasachstan und Aserbaidschan. Überall gab es angeblich schon mal vom Pentagon betriebene Biowaffenlabore. Was das Pentagon natürlich immer wieder massiv dementiert hat und was auch völlig aberwitzig wäre. Wenn ich Biowaffen entwickeln will, was gegen internationale Abkommen verstößt, mache ich das ganz sicher nicht in einem Land, wo Russland jenseits der Grenze steht und mit seinen Panzern jederzeit vorbeikommen kann, wie das in Georgien schon passiert ist. Aber diese Geschichte ist eben ein sehr hartnäckiger russischer Propagandatopos. Man kann dann sehen, wie dieser Propagandatopos mit verteilten Rollen über Wochen und Monate immer wieder bespielt wird, während der Krieg bereits in vollem Gange ist, was leider auch in Deutschland zum Beispiel verfängt. Kollegen vom Zentrum für Monitoring und Analyse, CeMAS, haben eine repräsentative Umfrage gemacht und gezeigt, bei Kriegseintritt glaubten den Satz „In der Ukraine gibt es vom Pentagon betriebene Biowaffenlabore“ 7 Prozent der Befragten, und im Oktober waren es dann 12 Prozent. Die Propaganda ist also in vollem Gang. Für diese Art von Inhalten läuft sie fast ausschließlich sozial medial und über Russland-assoziierte, von Deutschen betriebene Propaganda-Kanäle auf Telegram oder Blogs und so weiter. Und dann spielen Verschwörungstheoretikerunternehmer wie Eva Herman dabei eine Rolle, die dann ihre Reichweite auch noch dankbar zur Verfügung stellen für so etwas. Und so bringt man diese Art von Desinformationsnarrativ dann unter das Volk. Es ist also ein bisschen komplizierter, als "da ist diese Trollfabrik in Sankt Petersburg". Die gibt es auch, die existiert vermutlich auch immer noch weiter. Herr Prigoschin, der sie gegründet hat, hat das jetzt gerade übrigens stolz zugegeben im Zuge einer jetzt gerade großangelegten Recherche zum Thema Desinformation, die ganz viele Medien parallel produziert haben. Die gibt es mit Sicherheit immer noch. Es gibt auch mit Sicherheit noch andere ähnliche Einrichtungen, die die sozialen Medien durch Fake Accounts in riesiger Zahl versuchen, mit Inhalten zu überschwemmen und da Reichweite und Aufmerksamkeit oder simulierte Aufmerksamkeit zu erzeugen. Das führt widerum dazu, dass der Algorithmus denkt: "Ach, guck mal, das interessiert ja ganz viele Leute, das zeige ich noch anderen Leuten". Es geht ja auch immer darum, die Maschine zu beeinflussen. Das ist alles immer noch da, und es hat bestimmt nicht aufgehört. Und man sieht eben auch, dass es bei bestimmten Themen dann konzertiert eingesetzt wird. Aber immer im Konzert mit freiwilligen Desinformationsakteuren, irgendwelchen Leuten, die im Zweifelsfall lieber Russland glauben als der bösen NATO, und mit Verschwörungstheorieunternehmern wie Eva Herman und Ken Jebsen und Heiko Schrang und wie sie alle heißen, da gibt es genug davon in Deutschland. Auch mit Publikationen, wie dem Kompaktmagazin, da gibt's ja so eine Schnittmenge: rechtsextreme Verschwörungserzählungen, angesiedelte Publikationen und Akteure. Dann aber eben auch solche Akteure wie Tucker Carlson bei Fox News, der die Biolabsverschwörungserzählung zum Beispiel auch gerne immer wieder mal in seiner Sendung thematisiert hat. Gelegentlich spielt dann auch noch das chinesische Außenministerium mit und redet auch noch von Waffenlaboren in der Ukraine. Also, es ist nicht so einfach, da sitzt jemand in Russland und macht Desinformation, sondern da gibt es professionelle Desinformationsakteure, die von Russland aus gesteuert werden. Und es gibt aber noch eine ganze Menge anderer Akteure, die das Spiel auch Mitspielen aus kommerziellem Interesse oder anderen politischen Interessen et cetera.

Amira El Ahl: Aber wenn Sie sagen, die Propaganda ist im vollem Gange, sehen wir ja auch, wer gewinnt denn dann den kommunikativen Krieg in den sozialen Medien? Am Anfang sah es so aus, dass es die Ukraine wäre. Ist das immer noch so?

Christian Stöcker: Also ich würde sagen, das kommt ein bisschen darauf an, wo man hinguckt. In Deutschland gibt es natürlich weiterhin pro-russische Propaganda und russische Propaganda. Aber meine Wahrnehmung ist nicht, dass die Ukraine hier an Sympathien eingebüßt hat. Die ganzen Geschichten, die Russland am Anfang probiert hat – das sind alles Nazis in der Ukraine und auch diese Biowaffenlaboregeschichte und so weiter –, das sind alles Themen, mit denen reussiert man in Deutschland nur bei einer kleinen Minderheit, die ohnehin schon verschwörungsideologisch unterwegs ist. Das ist immer ein bisschen die Frage, wo man da die Grenze zieht. Aber solche Geschichten wie das Manifest, dass da jetzt im Umlauf ist, an dem also nicht nur Sarah Wagenknecht, die schon sehr lange ein großes Herz für Vladimir Putin hatte, und auch die AfD, die auch schon immer aus mehr oder weniger durchsichtigen Gründen ein großes Herz für Vladimir Putin hatte, beteiligt sind. Es gibt andere Arten der etwas weicheren pro-russischen Kommunikation, an der sich auch Leute beteiligen, die überhaupt nicht vorhaben, pro-russische Kommunikation zu machen, und die sich eigentlich ganz laut Frieden wünschen. Diese ganz großen dicken Propagandalügen sind in Deutschland nicht so erfolgreich. Aber in anderen Teilen der Welt sieht das möglicherweise total anders aus. Und wir wissen, dass nicht nur Russland, sondern auch andere Organisationen, die solche Desinformationskampagnen fahren, auch in afrikanischen Ländern oder Indien oder in Südostasien und so weiter extrem aktiv sind. Und da kann es sein, das wissen wir gar nicht so genau, dass beispielsweise in Indonesien viele Leute ein vollkommen anderes Bild von diesem Ukraine-Krieg haben, als wir das in Westeuropa haben. Und das gar nicht mitkriegen, dass die Wahrnehmung der Welt an anderen Stellen, wo russische Propaganda möglicherweise auch mit weniger Gegenwehr durch die sozialen Medien schwappt, vielleicht eher verfängt. Dass es sowas gibt, das können wir schon zeigen. Stichwort Propagandavideos, die sich verbreiten zum Thema "Angeblich hat Joe Biden angekündigt, dass die Amerikaner Nordstream I und II sprengen werden". Hat er nicht. Aber es gibt einen aus dem Zusammenhang gerissenen Videoschnipsel, wo er mit Olaf Scholz gemeinsam ankündigt, die Pipeline bleibt zu, wenn ihr einmarschiert. Dieser Videoschnipsel wird aus dem Zusammenhang gerissen. Er sagt dann, wir werden das schaffen, dass Nordstream II nicht in Betrieb geht. Daraus wird dann gemacht: "Aha! Damals hat er es angekündigt" und diese Art von Video wird dann verbreitet, konzertiert von augenscheinlich Botnetzen auf Twitter zum Beispiel, von denen aber manche Accounts sind, die eigentlich in Malaysia sitzen oder in Südafrika und normalerweise über südafrikanische Innenpolitik twittern. Es gibt diese Netzwerke also auch woanders, und da sind sie vielleicht auch erfolgreicher, weil es da weniger gegen ausgleichende Gegenkommunikation gibt. Es ist extrem schwer einzuschätzen, wie erfolgreich russische Propaganda im Rest der Welt ist. In Europa und in den USA hält sich es in Grenzen, glaube ich.

Amira El Ahl: Ich kann das bestätigen, was Sie sagen mit dem ganz anderen Blick. Zum Beispiel in der arabischen Welt, die haben einen ganz anderen Blick auf diesen Krieg. Ich weiß nicht, ob es eben daran liegt, dass es Propagandalügen sind, die da eben verfangen und vielleicht der Algorithmus, der in sozialen Netzwerken anders funktioniert. Aber definitiv haben die wirklich einen komplett anderen Blick auf diese Krise.

Christian Stöcker: Wenn Sie jetzt die arabische Welt ansprechen: Das hat jetzt nur noch begrenzt mit sozialen Medien zu tun. Aber es gibt eben in Teilen der Welt einen ganz ausgeprägten manifesten Antiamerikanismus, den Putin mit großer Werf in ganz offener Kommunikation bespielt. Er hält Reden, in denen er über den Kolonialismus des Westens spricht und sich selbst absurderweise, als ein Land, das gerade eine ehemalige Kolonie mit Krieg überzieht, sich selbst als Kämpfer gegen den amerikanischen westlichen Neokolonialismus präsentiert. Solche Erzählungen, wenn man die dann auch noch entsprechend sozial medial unterfüttert, verfangen eben in Teilen der Welt, in denen die USA wirklich keinen guten Ruf haben, und dann by proxy Europa auch nicht, wahrscheinlich ganz gut.

Amira El Ahl: Absolut ja. Wo wir gerade bei der arabischen Welt waren: Wie haben denn die sozialen Medien insgesamt die Zivilgesellschaft verändert, auch mit Blick auf Revolutionen, den sogenannten arabischen Frühling in den Jahren ab 2011 in Ägypten, Tunesien, Lybien, et cetera, aber auch jetzt im Iran?

Christian Stöcker: Da kommen wir jetzt ein bisschen zurück zu dem, worüber wir ganz am Anfang gesprochen haben. In dem Moment, in dem die Welt zu einer wurde, in der jeder und jede beziehungsweise ganz viele Leute ein potenziell global sendefähiges Gerät bei sich haben, haben sich die Regeln für sowohl die Organisation von Protest, als auch die Kommunikation über Protest, aber auch die Verbreitung und die Organisation von Propaganda komplett geändert. Also in dem Moment, in dem die klassischen Gatekeeper, die journalistisch arbeitenden Medien et cetera so weit entmachtet waren, wie sie das jetzt mittlerweile sind, verändern sich auch die Regeln für die Hoheit über das, was den öffentlichen Diskurs bestimmt. Das kann völlig unterschiedliche Auswirkungen haben und manche sind wünschenswert und manche sind fürchterlich. Es ist sehr schwierig, darüber eine pauschale Aussage zu machen. Aber ich sage mal ein Beispiel, das ich auch in Lehrveranstaltungen immer wieder bringe. Wir haben in den letzten zehn Jahren keine einzige neue soziale Bewegungen gesehen, deren Name nicht ein Hashtag ist. FridaysForFuture, MeToo, Black Lives Matter und so weiter. Das sind Entwicklung, wo man sagen kann, zumindest als liberaler, aufgeklärter Bewohner der westlichen Welt, das ist eher was positives als was negatives. Auch die sind ohne soziale Medien nicht denkbar. Man kann über soziale Medien für Themen, die vorher unterrepräsentiert waren, Aufmerksamkeit erzeugen, und man kann Leute sehr schnell und sehr effektiv organisieren. Und auf diese Weise organisierte Menschen können auch ihre gemeinsame Kommunikation dann wiederum ganz anders gestalten, als es früher der Fall war. Beispiel Lützerath RWE: Die Geschichte des Widerstandes gegen das Abackern dieses Dorfes wurde mit Sicherheit im Zeitalter allgegenwärtiger sozialer Medien durchaus anders erzählt und auch rezipiert, als das vorher der Fall gewesen wäre. Dass da Polizisten Demonstranten in Laster laden, auf denen groß RWE draufsteht, das sind Bilder, die kamen aus den Handys von irgendwelchen Aktivistinnen, und die hätte die Welt sonst nicht zu sehen bekommen. Jede Art von Ereignis von einer gewissen Tragweite wird völlig anders dargestellt und anders wahrgenommen. Gleichzeitig ist es so, dass die Akteure, die über die entsprechenden Mittel und das nötige Know-How verfügen, mittlerweile auch immer besser darin werden, diese neuen Ökosysteme für ihre Zwecke gezielt einzusetzen. Und dass gezielte Propaganda, Beeinflussung, Hasskampagnen, Einschüchterung und so weiter über die sozialen Medien genauso zugenommen haben wie die gesellschaftlich eher wünschenswerten Entwicklungen, die das ganze mit sich bringt. Also, es ist einfach sehr schwierig, da irgendein pauschales Urteil zu finden.

Amira El Ahl: Das sagt der Autor und Psychologe Christian Stöcker. Vielen Dank für das spannende Gespräch, Herr Stöcker.

Christian Stöcker: Danke Ihnen.

Amira El Ahl: Damit sind wir am Ende dieser Episode von "Die Kulturmittler". Wenn Ihnen diese Folge gefallen hat, dann empfehlen Sie den Podcast doch gerne weiter. In der nächsten Folge spreche ich mit Diana Berg. Sie ist ukrainische Künstlerin, Aktivistin und hat die mittlerweile im Exil befindliche queere Kunstplattform TU in Mariupol gegründet. Damit Sie diese und alle weiteren Folgen nicht verpassen, können Sie den Podcast natürlich abonnieren. Das geht zum Beispiel dort, wo Sie gerade diese Episode gehört haben, alle bisherigen Folgen von "Die Kulturmittler", mehr Informationen zum Institut für Auslandsbeziehungen und zur Außenkulturpolitik allgemein finden sie auf www.ifa.de. Sollten Sie Fragen oder Hinweise zu den Kulturmittlern haben, dann schreiben Sie uns gerne eine E Mail an podcast(at)ifa.de. Und damit verabschiede ich mich. Mein Name ist Amira El Ahl, danke fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal.

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